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Eine parabellizistische Kurzgeschichte ohne Happy End

Manche an Bord dachten, es sei nur der Wind, der aufgefrischt hätte und die Wellen gegen Bug und Bordwand krachen ließ. Eine Illusion. Tatsächlich hatte das Schiff Fahrt aufgenommen und kämpfte mit der versammelten Kraft seiner schweren Diesel gegen den Strom der Zeit, der es in unbekannte Gefilde zu tragen drohte.

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Deutschland, Schiff, 1900

Auf der Brücke herrschte längst Panik und blankes Entsetzen. Über Funk plärrten un­ab­lässig die Kommandos der Reederei. Die Stimmen überschlugen sich. Stimmen, die in der Vergangenheit freundschaftlich mahn­ten und man­ches­mal warnten, droh­ten seit dem Kurswechsel offen mit Kriegs­gericht und kurzen Prozessen im Falle von Meuterei. Die Offiziere hatten zunächst die Reihen geschlossen und dem Kapitän ihre volle Unterstützung ver­sichert, doch als die ersten Masten brachen, ein Teil der Ladung über Bord ging und aus dem Zwischendeck grollende Stimmen des Unmuts immer lauter wurden, breitete sich auch unter ihnen die nackte Angst aus:

Was würde passieren, wenn der Mob die Brücke stürmte?

Über die schiffseigene Sprechanlage wurden Parolen und Plattitüden verbreitet. Mannschaften und Passagiere hatte man zunächst mit falschen Wetterberichten abgespeist, als die See unruhig wurde. Doch nun, da das Schiff von der Reederei mit voller Fahrt und gegen die Strömung in das Auge eines Hurricane gelotst wurde, ließ sich das Ganze nicht mehr als schlechtes Wetter verkaufen. Auch wenn sie unter Deck quasi blind waren: Die Leute rochen Lunte – und Angstschweiß.

Dazu beigetragen hatten einzelne Abtrünnige und Freidenker, die sich von den unteren Decks hinauf in die Wanten durchgeschlagen hatten, weil sie wissen wollten, was wirklich Sache ist und wohin die Reise geht. Fragen, die sich die meisten der armen Teufel unter Deck gar nicht stellten. Sie vertrauten auf Kapitän und Mannschaft. Das Unterhaltungsprogramm an Bord war üppig bis dekadent und sorgte dafür, dass die meisten der Passagiere überhaupt nicht wissen wollten, wohin die Reise ging. Der Weg ist das Ziel, dachten sie und die Besatzung, die selbst weder Karten noch Gewässer kannte, tat alles, um die Menschen in diesem absurden Glauben zu belassen.

Oben in den Tauen war die Sicht klar und frei. An ruhigen Tagen war deshalb deutlich zu erkennen, dass das Schiff Kurs gegen die Strömung aufgenommen hatte – weg von der Sonne. Diese offenkundige Tatsache deckte sich nicht mit den noch unaufgeregten, regelmäßigen Ansagen der Sprechanlage, die pauschal und monoton eine Reise ins Licht verkündeten. Als dann die ersten Sturmausläufer die Wellen kräuselten, mühten sich die Ansager, das, was auch in den unteren Decks nicht verborgen bleiben konnte, mit täglich wechselndem Unterhaltungsprogramm und Seemannsgarn zu überspielen.

Die anfangs angenehme steife Brise, die hoch über den Planken den Kopf lüftete und die Gedanken klärte, war indes längst einem aufziehenden Sturm gewichen. Das Meer hatte sich verfärbt, von einem beruhigenden Blau in alarmistisches Rot – Blutrot. Leichen trieben vorbei. Erst einzelne, fremde Gesichter in merkwürdig anmutenden Gewändern. Dann waren es ganze Knäuel verknoteter Leiber. Ihre immer bleicheren Antlitze kamen einem zunehmend vertraut vor.

Unter Deck ahnte man davon nichts. Die Stimmen und immer aufgeregteren Rufe der Spinner und Protestler drangen wegen des Sturms bestenfalls bis in die Kajüten der Mannschaften, die kurzerhand die Sprechanlage aufdrehten, um das Heulen des Windes, das Brechen der Wellen und vereinzelte Schreie der Warnenden zu übertönen.

Schreie kamen nun auch aus dem Meer oder waren sich schon immer dagewesen? Ertrinkende ruderten mit den Armen, klammerten sich an Wrackteile, aufgeblähte Leichen und schwimmende Inseln aus Müll. Stündlich wuchs ihre Zahl, aber ihre stummen Schreie ertranken im Getöse der Wellen, der stampfenden Diesel und den mittlerweile immer hysterischer krächzenden Ansagen aus den über das gesamte Schiff verteilten Lautsprechern.

Oben in den Wanten herrschte – je nach Sicht – ungläubiges Staunen bis zu höchstem Entsetzen angesichts des eingeschlagenen Kurses. Das Spektakel, das sich in Fahrtrichtung bot, war apokalyptisch. Die Wolken strangulierten sich zu einem gigantischen Wirbel in dessen Zentrum das Meer und alles mit ihm in den Himmel gesogen wurde. Eine rotierende Fontäne aus Blut, Schaum und Leibern, die in einem alles verschlingenden schwarzen Loch verschwanden. Nur der Teufel wusste, wo sie ausgespuckt würden, zermahlen und verrührt zu einer Ursuppe des Todes.

Der Blick über die Schulter, zurück über das Heck zum Horizont offenbarte nicht nur die letzten Strahlen der Sonne, sondern die Konturen armer Teufel, die es geschafft hatten, an der von Wellen umtosten Bordwand nach oben zu klimmen. Waren es anfangs einzelne, kräftige junge Männer, so schwoll ihre Zahl mit dem Sturm und den Wellen. Mit letzten Kräften halfen sie sich gegenseitig über die Reling und taumelten in Richtung Salon und Kombüse, vorbei an entsetzten Gesichtern der aus ihrem Vergnügen oder dem Schlaf – in jedem Fall aber aus der kompletten Ahnungslosigkeit – gerissenen Passagiere.

Nun brach auch in diesen Teilen des Unterdecks Panik aus, aber wer dachte, die Panik speise sich aus der Furcht, das gleiche Schicksal der Schiffbrüchigen zu erleiden, der wurde schnell eines Besseren belehrt: die größte Furcht der Passagiere bestand darin, Proviant und Kajüten teilen zu müssen. Während die Dissidenten in den Wanten wild gestikulierend in Richtung des alles zermahlenden Hurrikan wiesen und Flugblätter auf das Deck warfen, verwandelte sich die Panik unter Deck in einen ganz eigenen Hurrikan aus Chaos und Anarchie. Servicepersonal und Mannschaften brüllten widersprüchliche Kommandos und Parolen, während der Mob sich gegenseitig und den immer zahlreicher einströmenden Schiffbrüchigen an die Kehle ging.

Das als unsinkbar geltende Schiff bekam nun immer mehr Schlagseite und auf der Brücke waren Ordnung und Hierarchie teils offenem Ungehorsam und Befehlsverweigerung gewichen. Während die ferne Reederei über Funk immer lauter bellte und forderte, auf Kurs zu bleiben, formierten sich unter den Offizieren Fronten des Kadavergehorsams und des Widerstand. Wechselseitig griff man ins Ruder und gab eigenmächtig widersinnige Anweisungen in den Maschinenraum.

Etwa zu diesem Zeitpunkt erreicht die führerlos schlingernde „Deutschland“ den Ereignishorizont. Auf allen Decks regiert das blutige Chaos. Ein Mob mit Knüppeln stürmt die Brücke und findet röchelnde Überlebende einer Meuterei – in ihren Augen: erlöschender Wahnsinn. Der Blick von der Brücke ins tosende Auge der Apokalypse ist das Letzte, was der Mob zu sehen bekommt. Für irgendeine Form der Wahrnehmung ist es längst zu spät.

Logbuch „Deutschland“ EOF.