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Schon der reisserische Titel offenbart die propagandistische Agenda eines Machwerks, das gestern im WDR ausgestrahlt wurde, sich als Dokumentation ausgibt und doch nichts anderes ist, als ein Paradebeispiel für undifferenzierte Hetze, Verzerrung und Lügen:

„Nackte Angst

– Russische Jagd auf Schwule“

Hier gehts zur „Doku“ im Flashformat ohne die lächerliche Jugendfreigabe. Alternativ: Downloads im mp4-Format High, Medium, Low

Die in weiten Teilen mit dramatischer und emotionalisierender Musik unterlegte „Dokumentation“ stammt vom britischen Channel4 und heißt im Original: „Hunted: the terror facing gay people in Russia“. Dass es der Begriff „Terror“ nicht in die deutsche Adaption geschafft hat ist keineswegs ein Qualitätsmerkmal, denn die deutsche Überarbeitung verschärft den Eindruck einer staatlich organisierten Jagd dadurch, dass nicht von einer „Jagd in Russland“ die Rede ist, sondern kurz von einer „russischen Jagd“, was den Eindruck erwecken soll, dass das, was dort präsentiert wird, in Russland tatsächlich staatlich sanktionierter Volkssport sei.

Es geht gleich mit einer Lüge los:

Es ist die Zeit nach den olympischen Spielen in Sotschi

Das ist offenkundig falsch, denn die Doku wurde Anfang Februar eine Woche vor den Spielen in Sotschi ausgestrahlt. Sie gehörte damit möglicherweise zu einer antirussischen Kampagne britischer Medien, wie wir sie auch hierzulande sattsam erlebt haben.

Es geht mit Lügen weiter:

Wir zeigen, was verborgen bleiben soll in Russland

Das Thema: Verfolgung von Schwulen und Pädophilen in Russland durch neonazistische oder auch nur homophobe und reaktionäre Gruppen, war zu diesem Zeitpunkt längst in russischen Medien präsent, wie ein sehr differenzierter und lesenswerter Artikel der Moscow Times vom 19. August 2013 beweist. Der Artikel zeigt darüber hinaus, dass diese Gruppen, die sich „Occupy Gerontophilia“ oder „Occupy Pedophilia“ nennen, anders, als sie selbst von sich behaupten und auch in der sogenannten „Dokumentation“ dargestellt, keineswegs von staatlichen Behörden ignoriert werden.  Tatsächlich gab es Wohnungsdurchsuchungen und Verhaftungen. Der geistige Vater dieser selbsternannten Homo- und Pädophilenjäger, der Neonazi Maxim Martsinkevich, flüchtete zwischenzeitlich nach Cuba, wo er auf Ersuchen Russlands verhaftet wurde. Dass es alles andere als einfach ist, einem Hetzer wie Martsinkevich juristisch beizukommen, zeigt ein interessanter Artikel der Huffington Post.

Die Gruppen organisierten sich über VK, dem russischen Pendant zu Facebook und hatten dort viele Anhänger. Mittlerweile sind die Accounts längst gelöscht. VK hat nach Medienberichten dazu eindeutig Stellung bezogen und klargestellt, dass es diese Gewalttaten in keinster Weise toleriert.

Die „Jagd“ oder „Safari“, wie es die Täter zynisch  selber nennen, funktioniert so, dass sich Lockvögel im Internet (vermutlich über VK oder auch andere soziale Netze) an mutmaßliche Homosexuelle oder Pädophile heranmachen und diese zu Treffen locken, bei denen dann die ganze Horde wartet und die Opfer verbal und körperlich misshandelt und vor allem erniedrigt. Das Geschehen wird mit Handys gefilmt, wobei die Opfer gezwungen werden, sich als schwul zu outen.

Die Masche kommt uns bekannt vor! Im Prinzip ist das nichts anderes, als das, was RTL2 mit Stephanie von und zu Guttenberg in etwas „zivilisierter“ Form präsentierte: Selbsternannte Moralapostel nehmen das Recht in die eigene Hand und gerieren sich öffentlich als Hüter von Anstand und Moral.

Die porträtierte Gruppe behauptet von sich selbst, dass sie es nicht auf Homosexuelle abgesehen habe, sondern nur auf Pädophile, dass ihnen aber bei der Jagd auf Pädophile vornehmlich Schwule ins Netz gingen. Offenbar arbeiten auch diese Gruppen mit jüngeren oder vice-versa mit älteren Lockvögeln, denn sie locken auch Teenager in die Falle, die bereit sind sich mit älteren Männern zu treffen – mutmaßlich gegen Bezahlung.

Dass sich die porträtierte Gruppe ganz ungeniert filmen liess ist genau darauf zurückzuführen: Mit der Jagd auf Pädophile glauben sie – vermutlich nicht zu Unrecht – eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben.

wdr_occupy_paed1Ekaterina Zigunova: Alle denken, wir wären eine homophobe Organisation und dass wir gegen Schwule, nicht Pädophile kämpfen. Von den 30 Pädophilen, die ich persönlich gefangen habe, waren 28 schwul, aber das heisst nicht, dass wir Schwule bekämpfen. Ein Kumpan ergänzt: Schwule haben damit nichts zu tun. Zigunova:Ja, aber es sind die Schwulen, die auftauchen.

Dass es sich mitnichten um ein russisches Phänomen handelt, zeigt ein Bericht aus Spanien vom Dezember 2013, wo sich mutmaßliche Nachahmer gefunden haben und über Facebook ähnliche „Safaris“ veranstalteten.

Der Erfolg der spanischen Nachahmer ist erschreckend: Die Jugendlichen bekamen bei Facebook in rund einem Monat über 40.000 Fans, die meisten zwischen 18 und 24 Jahre alt. Selbst gibt man sich zahm. „Wir gehören zu keiner Neonazi-Gruppe oder sind rechtsgerichtet oder radikal“, schreiben sie. Man sei nicht homophob und wolle Pädophile nur überführen, anstatt Gewalt auszuüben.

Kein Wort davon in der „Doku“, die nicht etwa das Ziel hatte, über einen Missstand aufzuklären, sondern bei der es ausschliesslich darum ging, Russland zu dämonisieren.

Dazu zählen nicht nur offene Lügen und das Verschweigen wichtiger Fakten, sondern auch die gezielte Übertreibung und Emotionalisierung:

Homosexuelle werden hier [in Russland] gejagt wie Tiere.

Dazu kommen skandalisierte „Fakten“, die bei näherer Betrachtung alles andere, als spezifisch für Russland sind:

Homosexualität wurde in Russland erst vor 20 Jahren legalisiert……In vielen westlichen Ländern hat sich die Einstellung gegenüber Homosexuellen in den vergangenen 20 Jahren entspannt. In Russland dagegen hat sie sich noch verschärft.

Tatsächlich wurde Homosexualität in Russland 1993 legalisiert, der §175 wurde in Deutschland erst 1994 komplett gestrichen – ein Jahr später. Na sowas! Auch über die tatsächliche Akzeptanz von Homosexuellen in Deutschland und der EU sollte man sich keine Illusionen machen, wie eine aktuelle Studie beweist:Lesben und Schwule fühlen sich in Europa nicht sicher. Auch Panarama berichtete gerade erst, dass es in Deutschland Ärzte gibt, die „Schwulenheilungen“ anbieten und manche Krankenkassen derlei gefährlichen Spuk auch noch finanzieren – vermutlich aber in Unkenntnis des Inhalts der „Therapien“.

Von jeglichem Bedürfnis nach Fakten, Belegen und Objektivität befreit, heisst es dann auch weiter in dem Machwerk:

Wahrscheinlich ist Russland der härteste Ort für Schwule.

Die Dummheit dieses Satzes steht symptomatisch für die ganze Doku und die Beschränktheit sowohl ihrer Macher, als auch der Stümper, die für die deutsche Überarbeitung verantwortlich sind. Muss man denen wirklich erklären, dass Russland kein „Ort“ ist, sondern das größte Land der Erde? Dass es dort Schwulenclubs und -bars gibt, genauso, wie Nazikneipen? Man kann sich das sparen, denn hier wird gezielt und schamlos diffamiert und nicht etwa unbedacht oder schludrig formuliert. Weitere Beispiele für mehr oder weniger subtile Propaganda (Verallgemeinerungen, Tier-Assoziationen, Behauptung ohne Belege, Unterstellung niederer Motive):

Russland behandele Homosexuelle als Menschen zweiter Klasse – das war bisher der Vorwurf im Ausland. Aber, die Situation ist viel schlimmer. Einige Russen betrachten sie als Beute. Schwule werden behandelt wie Tiere.
Gewalttätige Übergriffe auf Homosexuelle haben dramatisch zugenommen. Es ist fast ein Trend. Gewalttätige Bürgergruppen in ganz Russland jagen Schwule. Nur so zum Spaß.

Natürlich wird auch das in westlichen Medien skandalisierte Verbot der „Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“ in dem Bericht thematisiert. Vollkommen faktenresistent und verzerrend wird behauptet:

Es gab kaum eine Debatte im Parlament. Das Gesetz wurde einfach durchgewunken.

Wer die Entstehensgeschichte des Gesetzes kennt, weiss, dass es nicht in einem Hauruck-Verfahren in die Welt gesetzt wurde, sondern über Monate in verschiedenen Regionen Russlands gewachsen ist und erst als letzter Akt in der Duma verabschiedet und danach von Putin unterzeichnet wurde. Dieses Gesetz, das vermutlich auch in vielen europäischen Ländern Mehrheiten finden würde, wird von der Propaganda notorisch Putin in die Schuhe geschoben, um ihn als homophoben Unhold zu stigmatisieren.

Am Ende der sogenannten Doku wird sogar skandalisiert, dass ein homophober Angreifer, der einem homosexuellen Aktivisten eine Regenbogenfahne entrissen hat, dafür 2 Monate im Gefängnis gesessen hat und Mittelpunkt eines längeren Strafprozesses geworden ist. Wenn der Rechtsstaat in Russland greift, ist es der Propaganda eben auch nicht Recht.

Dieses Machwerk bietet Stoff für eine veritable Magisterarbeit, aber die Fledderei soll an dieser Stelle beendet werden. Wer etwas über Propagandamethoden lernen möchte, dem sei die „Doku“ empfohlen. Abschliessend sei nur noch erwähnt, dass in den gesamten knapp 45 Minuten kein einziger russischer Offizieller, keine leitender Polizeibeamter oder Jurist zu Wort kommt. Es wäre ein Leichtes, ein solches Machwerk über die „Deutsche Jagd auf Migranten“ zu drehen. Allerdings würde ein derartig einseitiges, pauschalisierendes, undifferenziertes und hetzerisches Elaborat in Deutschland niemals einen Sender finden.

Wie das bei den Propagandaopfern wirkt, sei hier mit Hilfe der Kommentare auf der WDR-Seite dokumentiert, wo sich leicht zu manipulierende Mitbürger schockiert zeigen:

Nackte Angst Kommentare1Mr. `We are unstoppable´ schrieb am 27.05.2014, 04.54 Uhr:  – Ich bin in meinen Grundfesten zutiefst erschüttert – Alles wofür schon andere Randgruppen erbittert gekämft haben; Toleranz, Freiheit, Gleichberechtigung, Akzeptanz usw. wird durch ein Gesetz komplett zur nichte gemacht und das schlimme ist… … Die Welt schaut mal wieder tatenlos zu bzw. weg! Die Parallelen zu gewissen grausamen Ereignissen aus der Vergangenheit sind doch nicht zu übersehen! Es war doch für die Bevölkerung Europas unvorstellbar, dass es nochmals soweit kommen könnte… und nun? Wenige Jahrzehnte später macht man ähnliche Fehler und schafft dem Ganzen damit auch noch Raum sich zu entfalten. Wenn wir uns in Europa einmal umsehen z.B. Türkei und Ungarn, sind es mir Rußland zusammen schon 3 Diktatur – ähnliche Regierungsformate die ganz klar nicht für Frieden sorgen werden. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen ganz geziehlt hinsehen und statt den Ärger zu schlucken, die Stimme zu erheben und alle Möglichkeiten ausschöpfen, sich
Gehör zu verschaffen! (S.R. …

Uwe-Ralf schrieb am 26.05.2014, 23.58 Uhr:  die Sendung hat mich völlig aufgewühlt und fassungslos gemacht. — solch schreckliche Bilder sind kaum auszuhalten. es wäre wünschenswert wenn der Beitrag auch in der ARD und nicht so spät gesendet würde. damit die Menschen mal sehen was in Russland vorgeht. es erinner so viel an den Beginn der Judenverfolgung in den dreissiger Jahren. ich fasse es einfach nicht. und wir schauen zu.

Inge Bauschat schrieb am 26.05.2014, 23.36 Uhr:  Also die Zeit war schon in Ordnung! Was interessiert, ist ja Geschmacksache! Warum kein Kommentar zum Inhalt? Ich war als Nichtschwule so empört und wütend über die Vorgehensweise der Polizei und der privaten Organisationen Russlands, dass ich eine wütende E-mail an die russische Botschaft in Hamburg geschickt und eine Antwort gefordert habe. Die wird nicht kommen. Ich wüsste gerne, wie ich meiner Wut sonst noch Luft machen kann oder wie ich helfen kann.

 NoName schrieb am 26.05.2014, 23.07 Uhr:  Es ist entsetzlich zu sehen, wie zurück geblieben ein Großteil der russischen Bevölkerung zu sein scheint. Die Gefahr für die Welt ist greifbar nahe!

gl schrieb am 26.05.2014, 23.03 Uhr:  Gibt es noch Menschenrechte, die dieses Land und seine („mündigen“) Bürger nicht mit Füßen treten?!? Im 21.Jahrhundert versagt auf ganzer Linie – sind halt nur Gasverkäufer, mehr braucht die noch…. Niemand!, …dass werden der FC Schalke und Herr Schrö… hoffentlich auch bald merken!

Andreas Marx schrieb am 26.05.2014, 22.58 Uhr:  Es war fast an der Grenze des Erträglichen, mitanzusehen, was dort passiert. Ich bin (trotz guter geopolitischer Bildung) verstört, was dort gezeigt wurde. Man fühlt sich ohnmächtig und möchte zu den selben Methoden greifen wie diese Bestien auf Menschenjagd.

Sylvia K. schrieb am 26.05.2014, 22.35 Uhr:  Was passiert in diesem Land? Was kann man tun?

GO schrieb am 26.05.2014, 22.34 Uhr:  … unglaublich, was sich in dem Land des „lupenreinen Demokraten“ abspielt.