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Dämonisierung der russischen Medien

von Gilbert Doctorow                                     Übersetzung FritztheCat

Der Westen eskaliert seine Dämonisierung der russischen Medien. Das sei „Informationskriegsführung“, die man neutralisieren müsse. Aber Gilbert Doctorow hält diesen Vorwurf nur für einen weiteren Teil des eigenen Propagandakriegs des Westens.

Einer der Hauptpunkte des Westens bei der Verurteilung von Wladimir Putins „Regime“ seit 2007 war seine angebliche Unterdrückung der demokratischen Institutionen, darunter der Angriff auf die Freiheit der Medien und die Einführung von Regierungs-Propaganda. Diese Woche wurde dieser Vorwurf in einer Resolution des Europäischen Parlaments wiederholt. Darin werden stärkere Gegenmaßnahmen zur Verteidigung der europäischen Werte gegen eine „Informationskriegsführung“ aus Moskau gefordert.

Die Vorwürfe – Russlands Medien seien nur ein Instrument staatlicher Propaganda, die an die einheimische Bevölkerung gerichtet wird, um die russischen Bürger auf Linie zu halten und die an das ausländische Publikum gerichtet wird, um Zwietracht unter den russischen Nachbarn und in der Europäischen Union zu säen – werden als eine Glaubensfrage formuliert und fast ohne Beweise erbracht. Jeder der dieses „Gruppendenken“ in Frage stellt wird sofort als „Werkzeug Putins“ oder Schlimmeres bezeichnet.

Ich habe das im März 2015 als einer von drei Diskutanten auf „The Network“, einem öffentlichen Programm von Euronews, aus erster Hand erfahren. Ich habe den Bemerkungen eines Mitdiskutanten widersprochen, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments, Elmar Brok, der darauf pochte dass Putin alle Freiheiten zerschlagen hat und dass sein Land keine freie Presse besitze.

Aufgrund meiner Vertrautheit mit den verschiedenen politischen Linien der russischen Printmedien und den offenkundig uneingeschüchterten Kreml-Kritikern auf den nationalen Radiostationen Ekho Moskvy und dem Fernsehsender Dozhd‘ habe ich entgegnet, dass beispielsweise die russische Berichterstattung zu Ereignissen im Donbass vielseitiger und freier sei als die Berichterstattung in den USA.

Brok konterte mit der beleidigenden Frage: „Und wie viel hat Ihnen der Kreml für diese Aussage bezahlt?“ Der Sender hat danach erlaubt, dass diese Videoaufzeichnung des Gesprächs veröffentlicht wurde.

Seitdem habe ich lange über diese Unterhaltung nachgedacht und nach unwiderlegbaren Beweisen für die relative Meinungsfreiheit auf russischen Sendern gesucht. Meine genaue Untersuchung von sehr beliebten Talkshows auf russischen Sendern, zuerst als Zuschauer, dann als Teilnehmer, hat genau das bewiesen.

Doctorov_PopovIch habe schon über meine erste Erfahrung darüber geschrieben, als ich zum ersten Mal in einem Programm des Staatssenders Rossyia 1/Vesti 24 teilnahm, die Sendung „Special Correspondent“ von Yevgeni Popov. Ich habe damals auf die fast ständige Präsenz von Oppositionsfiguren sowie von Ausländern aus den USA, Ukraine, Polen und Israel hingewiesen. Dabei konnte man sich darauf verlassen, dass deren Ansichten zu den jeweiligen politischen Themen in scharfem Kontrast zur Linie des Kremls standen.

Die Beurteilung der Talkshows

Im Frühherbst trat ich in der Nachrichtenshow „Sixty Minutes“ desselben Moderators auf und auch in der wahrscheinlich angesehensten Sendung dieses Genres, „Sunday Evening with Vladimir Soloviev“, auch eine Produktion von Rossyia 1. Soloviev hat abendfüllende Fernsehinterviews mit Wladimir Putin geführt und man kann von ihm sagen, dass er so nahe an die Macht kam, wie man in diesem Medium kommen kann. Seine persönlichen Ansichten sind vielleicht nationalistischer als die der Partei Vereintes Russland, aber auch er gibt in seinen Shows Sendezeit an sehr verschiedene russische und ausländische Ansichten.

In den vergangenen Monaten habe ich durch die Teilnahme an Sendungen auf dem anderen großen staatlicher Sender Pervy Kanal („Time Will Tell“) und dem größten kommerziellen Sender NTV („The Meeting Place“) meine Erfahrungen erweitert. Dieser Crashkurs wurde durch die amerikanischen Präsidentschaftswahlen erleichtert, denn Russisch sprechende Moderatoren aus Amerika wie ich waren wenigstens zeitweise eine heiße Sache für russische Sender.

In Gesprächen mit Diskussionsteilnehmern und in Interviews mit den Präsentatoren habe ich einige Insider-Informationen über die Produktion dieser Talkshows erfahren, etwa über ihr Zielpublikum, ihre technischen Aspekte und ihre wesentliche Marktposition.

Jeder der das russische Fernsehprogramm betrachtet, findet im allgemeinen schnell heraus, dass Talkshow-Formate einen großen Teil der Sendezeit einnehmen. Natürlich sind die Themen der Talkshows extrem verschieden und politische Talkshows sind traditionell eine Angelegenheit für den Abend, so wie die oben erwähnten Shows von Rossyia 1, das Tagesprogramm konzentriert sich typischerweise auf Belange von Hausfrauen, romantische Tagträumereien, Kochtipps oder dergleichen.

Daher war es ein kühner Schritt, als sich Pervy Kanal vor zwei Jahren dazu entschied, täglich am Nachmittag eine zweistündige politische Talkshow zu starten („Time Will Tell“). Wie erwartet war das Zielpublikum die Hausfrauen und Zuschauer über 50, aber es scheint, als seien auch eine ordentliche Anzahl von Zuschauern dabei, die das an ihrem Arbeitsplatz sehen.

Die Verlagerung auf den Tag

Die Zuschauerbeteiligung für diese Shows liegt typischerweise bei 20, was bedeutet, dass etwa 20% aller Fernsehzuschauer in Russland zu der gegebenen Zeit das Programm einschalten, was ein Publikum in den Millionen bedeutet. Als ich am 9. November in dieser Show erschien, die sich mit der Analyse der US-Wahl beschäftigte, da stieg die Zahl auf 30%. Verständlich, wenn man das große Interesse unter einfachen Russen für das Ergebnis der US-Präsidentenwahl und die Aussichten auf Krieg oder Frieden bedenkt.

Wie mir der Gastgeber von „Time Will Tell“, Artyom Sheinin, erklärte, verlangte die Tagesproduktion gewisse Produktionsentscheidungen, die sich von einer Abend-Talkshow unterscheiden. Erstens bedeutet die Erwartung eines weniger gebildeten Publikums, dass die Sprache der Diskutanten keinen politischen Jargon und keine Hinweise auf wenig bekannte Namen oder Philosophien enthalten sollte.

Artyom sagte, die Gesprächsteilnehmer sollten ihre Argumente so formulieren, als würden sie „zu ihren Kindern, ihrer Mutter oder ihrem Freund“ sprechen. Andererseits sei eine allzu ruhige Diskussion auch nicht vorteilhaft. Der Gastgeber erklärte, dass sein Publikum, das am Nachmittag zuhause sitzt, einen „Adrenalin-Stoß“ bräuchte und dass die Vorliebe russischer Diskutanten, sich gegenseitig in einem Gerangel niederzuschreien, im Gegensatz zu einer Abendsendung schon in Ordnung sei. Der Zuschauer am Abend kommt von der Arbeit nach Hause und sitzt in seinem Sessel vor dem Fernseher und will sich lieber entspannen, als dass er aufgeregt werden will.

Alle russischen politischen Talkshows auf den Hauptkanälen werden am Nachmittag Moskauer Zeit produziert, und alle haben im Bild die Einblendung „Live on Air“. Jedoch ist es eine andere Frage, wo und wann diese Shows Live gesendet werden oder ob sie vom Band wiederholt werden.

Beispielsweise werden die Programme von Rossiya 1/Vesti Live in den fernen Osten gesendet, wo sie am Ende der Hauptsendezeit erscheinen. Dann werden sie in der abendlichen Hauptsendezeit in den acht Zeitzonen im Westen der Russischen Föderation gesendet, und zuletzt in Moskau.

In dieser Hinsicht war es ein großes Risiko, dass Pervy Kanal vor zwei Jahren mit „Time Will Tell“ Live am Nachmittag aus Moskau sendete. Aus politischer Sicht war das ein Hochseilakt ohne Netz.

Und alle Programme werden aufgezeichnet und alle großen Kanäle stellen die Sendungen im Internet auf ihren Webseiten in kompletten und gekürzten Versionen zur Verfügung.

Vergleichbare Formate

So wie das russische Fernsehen oftmals das Studiodesign und das Präsentationsformat vom amerikanischen Fernsehen kopierte (Ich denke dabei vor allem an die „Tonight Show“, wie sie von den großen russischen Sendern kopiert wurde), so kopieren sie sich oft gegenseitig. Und wenn man eine der oben erwähnten politischen Talkshows einschaltet, dann findet man in der Tat eine sehr ähnliche Studio-Einrichtung mit Livepublikum.

Und bei Pervy Kanal machen sich die Produzenten darüber lustig, dass nach NTVs Entscheidung, eine eigene Nachmittagsshow „The Meeting Place“ zu starten, der Sender nicht nur das Produktionsformat und das Studiodesign übernommen hat sondern auch das Produktionsteam. Es hat sich auch durchgesetzt, dass ein Gastgeberpaar – Mann und Frau – in diesen Sendungen moderiert.

Aber es scheint einen deutlichen Unterschied zwischen diesen Shows zu geben, bezüglich des Ausmaß, wie sie durch das obere Management „vorbereitet“ werden und das Ausmaß der freien Diskussion. Das am meiste „vorbereitete“ ist die neue Staffel von Rossiya 1 „Sixty Minutes“, in der die Gastgeber Yevgeni Popov und Olga Skabeyeva von Telepromptern ablesen und der Studioapplaus stark gesteuert wird. Auf der anderen Seite sagt der Hauptgastgeber von Pervy Kanal „Time Will Tell“, Artyom Sheinin stolz, dass man ihm kein Drehbuch vorlegt und dass er das sagt, was er selber vorbereitet hat oder was ihm gerade einfällt.

Eine allgegenwärtige Tatsache ist, dass die Gäste kein Drehbuch haben und wenn jemand mitten im Satz unterbrochen wird, dann durch die anderen Gäste und nicht durch den Moderator. Mit Ausnahme hochrangiger Politiker, denen man den Respekt gebührt, der ihrer Stellung entspricht, ist kein Gast vor Unterbrechungen sicher und das Publikum liefert eine Stimmung wie in einer Gladiatoren-Arena und Applaus brandet während der Debatten auf.

Auf NTV gibt es noch zusätzlich das Missfallen des Publikums, aber das passiert selten. Einige der Gastgeber, insbesondere auf Rossiya 1/Vesti 24, kommen aus dem Fernsehjournalismus und haben ihre Stellung für erfolgreiche Reportagen vor Ort bekommen, besonders in gefährlichen Gebieten. So hat der Gastgeber Yevgeni Popov für Jahre aus der Ukraine berichtet, zuerst während der Orangenen Revolution und später von den Maidan-Protesten.

Der Inhalt der Programme und die Reihe der Gäste auf allen Kanälen kann sich aufgrund aktueller Ereignisse in letzter Minute ändern. Das führt dazu, dass die eingeladenen Gäste oft aus der Region Moskau kommen. Sie werden oft kurzfristig ein- und ausgeladen. Und tatsächlich kommen auf allen großen Shows der drei Kanäle, die ich aus eigener Hand kennengelernt habe, oft die gleichen russischen und ausländischen Gäste vor, politische Wissenschaftler der Universitäten oder der Denkpanzer, Journalisten und Duma- oder Ratsmitglieder.

Westliche Stimmen

Nicht alle Diskussionsteilnehmer kommen ins Studio. Ein paar glückliche Experten werden von anderen entfernten Orten übertragen und ihre Nahaufnahme wird auf Bildschirmen groß im Studio eingeblendet.

Einer dieser „häufigen Gäste“ auf Rossiya 1/Vesti 24 ist Dimitri Simes, der Präsident des Center for the National Interest in Washington DC. Diese Bildschirmauftritte bekommen eine besondere Behandlung, ohne Unterbrechung der anderen Gäste und nur mit respektvollen Fragen des Gastgebers.

Die am meisten gefragtesten Gäste verlassen oft das eine Studio früh, damit sie in ein anderes Studio kommen, wo zwischen den Werbepausen die Studiogäste wechseln. Keiner ist gefragter als der Amerikaner Michael Bohm, der in den finsteren Zeiten der sich verschlechternden Beziehungen mit dem Westen alle Kanäle in fließendem Russisch, oft begleitet mit russischen Slangwörtern, mit den neuesten politischen Positionen des Washingtoner Einheitsbreis versorgte.

Das wird vor allem von TV Produzenten geschätzt, die eine härtere Gangart des Kreml repräsentieren. Für sie ist Bohm jene Art Amerikaner die das Publikum so gerne hasst. Jede seiner Bemerkungen rechtfertigt eine Anhebung der Militärausgaben durch den Kreml. Nichtsdestotrotz bleibt es eine Tatsache, dass mit Bohm und ein paar anderen westlichen Gästen mit ihrer vollen Breitseite der westlichen Kritik an der Kreml-Politik in diesen Shows zu den besten Sendezeiten in Russland führt.

Die hochrangigen Politiker unter den Gästen kommen aus allen Duma-Parteien und nicht nur von der regierenden Partei Vereintes Russland. Im letzten Halbjahr habe ich die häufige Gegenwart von Wladimir Schirinovsky bemerkt, dem Anführer der nationalistischen Partei LDPR, während Gennady Sjuganow von den Kommunisten oder Sergey Mironov von Gerechtes Russland eher seltene Gäste waren.

Andererseits gab es häufige Auftritte von den Liberalen und der Yabloko-Partei, die es bei den letzten Parlamentswahlen nicht über ein Prozent schafften, geschweige denn über die Fünf Prozent-Hürde für ein Duma-Mandat.

Die Talkshow-Programme werden mit hohem Professionalismus vorbereitet. Hinter jeder stecken ausgiebige Nachforschungen zu geeignetem Archiv- und dem neuesten Bildmaterial. Auch die administrativen Aufgaben zum Transport der ausgewählten Gäste sind beträchtlich. Die Mitarbeiter der Teams, die ich kennenlernte, waren alle sehr bei der Sache und leisteten irre Arbeitsstunden um ihre Aufgaben zu erledigen.

Überzeugende Meinungen werden ermutigt

Ich habe auch eine sonderbare Komplizenschaft zwischen den „Betreuern“ und uns Gästen bemerkt. Bestimmt werden die Produktionsmitarbeiter belohnt, wenn sie „frische“ Gäste auftreiben, die sich bewähren, und sie tun alles dafür, dass ihre „Gladiatoren“ gut mit Kaffee, Tee und wenn nötig mit einem Schuss Brandy versorgt werden, um sie bei Laune zu halten.

Auf Rossiya 1/Vesti 24 haben die Moderatoren und die Gäste alle drahtlose Headsets. Auf Pervy Kanal und NTV sind jedoch nur die Moderatoren verkabelt, während die Gäste neben Produktionsmitarbeitern sitzen, die ihnen auf Verlangen Mikrofone reichen. Hier arbeiten die Assistenten für Neulinge wie mich sogar als Coaches und raten ihnen dazu, lauter oder schneller zu sprechen, etc., damit wir einen größtmöglichen Debatteneffekt erzielen.

Abschließend bleibt aus erster Hand zu bemerken, dass die russischen Polit-Talkshows ohne Zweifel solider Journalismus sind, der dem Publikumsinteresse dient, der dem breiten russischen TV-Publikum, von den normalen Eltern und Großeltern bis zu Geschäftsleuten und Universitätsgelehrten mit einer großen konkurrierenden und gut präsentierten Palette an Ansichten über die großen Tagesthemen versorgt, sowohl einheimischen als auch internationalen.

Diese Realität steht in scharfem Gegensatz zu dem, was uns die amerikanischen und westeuropäischen Massenmedien über Putins Russland glauben machen wollen.


gil-doctorowGilbert Doctorow hat einen Ph.D. für russische Geschichte an der Columbia University 1975. Seit fünfundzwanzig Jahren war er für multinationale britische und US-amerikanische Konzerne als Marketing Direktor und General Manager mit Verantwortung für Russland und Osteuropa tätig. Er veröffentlichte zwei Bücher über US-russischen Beziehungen und ist ein häufiger Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen über die Konfrontation zwischen Ost und West. Er war Mitglied des ursprünglichen US-ameri­ka­ni­schen Ausschuss für Ost-West-Verständigung.