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Russlands Meinungsvielfalt
von Gilbert Doctorow                                     Übersetzung FritztheCat

15.05.2016

Exklusiv: Die übliche US-Beschreibung der russischen Medien lautet: alles was man bekommt ist Kreml-Propaganda. Aber die Talkshows zu den besten Sendezeiten bieten eine breitere Meinungsvielfalt und gehaltvollere Debatten als das amerikanische TV, sagt Gilbert Doctorow.

Ich erinnere mich mit Gruseln an eine Debatte mit Elmar Brok, am 5. März 2015 auf „The Network“, einer Debattensendung auf Euronews. Der deutsche Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, kommt aus der Partei der Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ist im Parlament im Block der Europäischen Volksparteien, Mitte rechts. Es ist der Block, der im Parlament wirklich das Sagen hat.

Brok ist groß, barsch und zögert nicht, sein Gewicht spielen zu lassen, besonders wenn er mit jemandem außerhalb des Establishments diskutieren soll, jemanden den er nicht fürchten muss. Wir diskutierten über die Erschießung von Boris Nemzov, die wenige Tage zuvor passiert war. Brok bestand darauf dass Wladimir Putin dafür verantwortlich sei, nicht dass Putin den Abzug gedrückt hätte, aber er hätte jene Atmosphäre geschaffen in der so etwas möglich sei, etc., etc.

Putin_Fragestunde2016Irgendwie verlagerte sich das Gespräch auf die angeblich autokratische Natur des „Putin-Regimes“, mit seiner Unterdrückung der Freiheiten und insbesondere die immer strengere Kontrolle über die Medien. An diesem Punkt habe ich widersprochen und gesagt, dass die russischen Medien redaktionell sehr unterschiedlich seien, mit vielen verschiedenen Ansichten, die frei geäußert werden können.

Brok hat sofort zurückgeschossen und gesagt, dass das schlicht die Unwahrheit sei. Und er hat jeden Anstand hinter sich gelassen und sich vor laufender Kamera zu der Verleumdung hinreißen lassen und fragte mich, wie viel mir der Kreml für so eine Äußerung bezahlen würde. Nun weiß ein Jeder, dass ein autoritärer Mensch wie Brok die Redefreiheit nicht einmal erkennen würde wenn er über sie stolpert und jede Woche denke ich an diesen Wortwechsel zurück wenn ich das russische Staatsfernsehen einschalte und die eine oder andere große politische Talkshow sehe.

Diese Shows sind bei den Russen sehr beliebt und haben ein Publikum von zig Millionen Zuschauern. Die älteste macht der lang gediente Moderator Vladimir Soloviev. Eine konkurrierende Show dieses Formats läuft im Pervy Kanal (Anm.d.Ü.: der Erste Kanal), dem TV Aushängeschild des Landes, nennt sich Special Correspondent und Gastgeber ist der um 20 Jahre jüngere Yevgeni Popov.

Jetzt hatte ich meinen ersten Auftritt in der Sendung Popovs (am 11. Mai) und ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass meine Eindrücke als Zuschauer durch das bestätigt wurden, was ich als Teilnehmer erlebt habe: Den Respekt für die Meinungsvielfalt auf einem Marktplatz der Gedanken.

Doctorov_Popov

Dass ich in der Sendung gelandet bin, ist das Ergebnis einer jener seltenen Begegnungen, die einen Kern von Vorbestimmung haben. Ich war am 26. April zufällig im Auditorium des Europäischen Parlaments – ich wartete auf die Vorführung von Alexander Nekrasovs Film über Bill Browder und das fabrizierte Märchen um die Ermordung von Sergei Magnitsky – als Yevgeni und sein russischer Kameramann in dem fast leeren Saal nach jemandem Ausschau hielten, der die kurzfristige Absage des Films kommentieren würde. Sie wendeten sich an mich und ich lieferte den nötigen Kommentar und wir kamen ins Gespräch.

Mein späterer Artikel über das Konzert des Mariinsky Symphonieorchesters am 5. Mai in Palmyra wurde bei Consortiumnews, Russia Insider und anderen Portalen veröffentlicht, die vom Stab Popovs gescannt werden. Und als sie eine Talksendung über Terrorismus, den Islamischen Staat und die Pressereaktionen im Westen auf das Mariinsky-Konzert vorbereiteten, hat man an mich als ein willkommenes neues Gesicht gedacht. Ich bekam per email eine Einladung in ihr Moskauer Studio, um zu den „Stammgästen“ von „Special Correspondent zu stoßen.

Die Stammgäste der Talkshows

Die Stammgäste dieser Talkshows sind eine Mischung aus Russen und Ausländern, Kremlanhängern und Kremlgegnern. Immer ist mindestens ein Amerikaner dabei, der zuverlässig die Sichtweise Washingtons versprüht. Ein verlässlicher Stammgast dieser Kategorie war Michael Bohm, er war lange Zeit leitender Redakteur bei der Moscow Times und lehrt momentan angeblich Journalismus in Moskau. Am 11. Mai wurde Bohms Stuhl von einem anderen aufrechten Neokon warmgehalten, dem Bürochef der New York Post.

NetanjahuDann ist da ein israelischer Stammgast, der Netanyahus Sicht auf die Dinge wiedergibt. Und man kann sich darauf verlassen, dass man einen Polen oder Ukrainer sieht. Die peppen jede Diskussion über die Maidan-Proteste und das gegenwärtige Regime in Kiew auf.

Unter den Russen bieten die Gastgeber der Talkshows einen oder mehrere Vertreter der Oppositionsparteien auf. Am 11. Mai war das eine Person der Yabloko Partei (Liberale). Ein anderes Mal ist es der Anführer der Kommunistischen Partei, Gennady Zyuganov, oder der Gründer der rechtsnationalistischen LDPR, Vladimir Zhirinovsky, oder der Anführer der sozialdemokratischen Partei „Just Russia“. Sergei Mironov. Sie alle bekommen ihre Sendezeit in diesen Shows.

Die Position der Kremlbefürworter vertraten am 11.Mai ein Mitglied des russischen föderalen Sicherheitsrates, ein Professor für TV-Journallismus an der Moscow State University, ein sehr loyaler Journalist von Vesti und jemand von einer Moskauer Denkfabrik.

Jetzt gibt es welche die einwenden, jene ausländischen Kremlgegner, die immer wieder eingeladen werden, um in den russischen politischen Talkshows zu reden, würden genau deshalb eingeladen weil sie so haarsträubend seien und/oder so unterbelichtet seien, dass sie den Zwecken der offiziellen Parteilinie dienten. Da mag etwas Wahres dran sein, aber um eine solch brillante Selbstkarikatur wie Michael Bohm abzuliefern bedarf es schon außergewöhnlicher linguistischer Fähigkeiten, das bekommen die russischen Zuseher sicher nicht mit.

Aber die ins Fernsehen eingeladenen russischen Oppositionsführer sind eine ganz andere Sache. Das sind gerissene Beobachter des russischen politischen Systems, mit tiefen Erkenntnissen aus erster Erfahrung und mit analytischen Fähigkeiten. Bei den Stimmen der russischen Opposition werden andere Faktoren wirksam.
Erstens dreht sich deren Kritik am Kreml heutzutage fast ausschließlich um Innenpolitik; um die Bevölkerung ganz allgemein, jene Oppositionsführer, die im Staatsfernsehen auftreten, haben sich angesichts des Wirtschaftskrieges und des Informationskrieges, man hält dies als vom Westen initiiert, um die Flagge geschart.
Zweitens sind es nahezu alles Vertreter von Parteien, die einen Sitz in der Duma haben. Die sogenannten „nicht-systemischen“ Oppositionsfiguren, die bei den Wahlen die fünf Prozent-Hürde und den Einzug ins Parlament nicht geschafft haben, sie bekommen keine oder nur sehr wenig Sendezeit in den Talkshows.

Vom Standpunkt der Behörden aus wird es den manchmal anrüchigen Persönlichkeiten nicht gestattet, ihre aufwieglerischen Ansichten im Staatsfernsehen zu verbreiten. Zum Beispiel Mikhail Kasyanov, dem Kopf der Parnas Partei, oder Bewegung. Er hat sich dort mit Boris Nemtsov die Macht geteilt, hat zu viel Zeit mit dem antirussischen Block von Guy Verhofstadt im Europäischen Parlament verbracht oder mit Besuchen bei Senator John McCain aus Arizona in dessen Zuhause, um die antirussischen Sanktionen zu unterstützen. Alexei Navalny hat praktisch zu einem gewaltsamen Umsturz des Regimes aufgerufen, als er die Menge auf dem Bolotnaya-Platz am 5. Dezember 2011 aufwiegelte. Man kann sich schwerlich ein Land vorstellen, in dem die Behörden so jemandem ein Mikrofon reichen würden, am wenigsten zur besten Sendezeit.

Auf in die Arena

Die Russen sind große Fans jener Box- und Wrestling-Veranstaltungen, bei denen es keine Regeln gibt, wo fast alles erlaubt ist. Und in den Talkshows geht es meist munter drauf los, vor allem wenn kein hochgestellter Politiker unter den Diskutanten ist. In diesem Sinne wurde jeder einzelne von uns mit Applaus empfangen als wir das Studio betraten, ähnlich wie römische Gladiatoren auf ihrem Weg ins Kolosseum.

Aber der Moderator sorgt für Ordnung. Und nicht nur um dafür zu sorgen, dass die Werbepausen beachtet werden. So wurde mir vor der Sendung versichert, dass ich die Stammgäste nicht niederschreien müsse um gehört zu werden, so wie die es oft untereinander tun. Man würde mir das Mikrophon geben, wenn ich andeutete dass ich einspringen wolle.

Ich kam während der Sendung dreimal zu Wort, am längsten als die Diskussion endlich auf das kam, wozu ich mich vorbereitet hatte und das ich vermitteln wollte: Meine Ansicht über die westliche Berichterstattung über das Mariinsky-Konzert in Palmyra. (Anm.d.Ü.: Frederik Pleitgen, der Sohn von Fritz Pleitgen, war auch nach Syrien eingeladen, berichtete auf CNN aber lieber über das russische Militär und verschwieg das Konzert)

Konzert PalmyraYevgeni Popov wusste ganz genau, dass das, was ich sagen würde, das genaue Gegenteil dessen sein wird, was er in seinem Bericht vor ein paar Tagen sendete. Seine Position war: Die Welt sieht die russische Kulturmission in Palmyra im Großen und Ganzen mit großer Sympathie. Mein Standpunkt war und ist, dass das PR-Ergebnis Russlands, 100 ausländische Journalisten zu dem Konzert zu bringen, sehr dürftig und weitgehend negativ war.

Und ich habe hinzugefügt, dass es viel zu früh sei um Schlüsse zu ziehen, denn die westlichen Medien waren nach dem Konzert von Valery Gergiev im August 2008 (zum Ende des Russisch-Georgischen Krieges) in Südossetien ähnlich negativ. Aber nach sechs Monaten hat sich die Ansicht im Westen komplett verändert, zugunsten von Gergiev.

Popov ließ mich zu Ende reden und hielt die anderen zurück. Für mich bestand kein Zweifel dass es sein Ziel war, sein Publikum herauszufordern und nicht zu verhätscheln. Wie schön wäre es, wenn zur Prime-Time die Sender in den USA etwas ähnlich Raues und Lebhaftes – jedoch Substantielles – zulassen würde. Bei den Debatten über die Außenpolitik gegen Russland und den Rest der Welt.


gil-doctorowGilbert Doctorow hat einen Ph.D. für russische Geschichte an der Columbia University 1975. Seit fünfundzwanzig Jahren war er für multinationale britische und US-amerikanische Konzerne als Marketing Direktor und General Manager mit Verantwortung für Russland und Osteuropa tätig. Er veröffentlichte zwei Bücher über US-russischen Beziehungen und ist ein häufiger Teilnehmer an öffentlichen Veranstaltungen über die Konfrontation zwischen Ost und West. Er war Mitglied des ursprünglichen US-ameri­ka­ni­schen Ausschuss für Ost-West-Verständigung.