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Emotionen nach dem Paris-Anschlag werden missbraucht, um Snowden anzuschwärzen und von den Vätern des IS abzulenken

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von                                         (Übersetzung FritztheCat)

Whistleblower wurden schon immer beschuldigt, dass sie den Feinden Amerikas helfen würden (Berater von Nixon beschuldigten Daniel Ellsberg, er wäre ein sowjetischer Spion und habe mit seinen Veröffentlichungen Schuld am Tod von Amerikanern); das ist nur die normale Spieltaktik. Daher kommt es nicht überraschend, dass Edward Snowden von „Offiziellen“ und deren Medienverbündeten als „Terrorunterstützer“ beschuldigt wurde. Nachdem dessen Veröffentlichungen es den Zeitungen auf der ganzen Welt ermöglicht haben, über insgeheim installierte Überwachungsprogramme zu berichten.

Dennoch war ich überrascht wie schnell und offensichtlich – derart schamlos – einige auf den Gefühlszug nach Paris aufsprangen, um Snowden anzuklagen. Da lagen ja noch die Leichen auf den Straßen von Paris. Zuerst waren die geschmacklosen Ausbeuter durchgeknallte Ex-Geheimdienstler (der frühere CIA-Chef James Woolsey, der sagte, „Snowden sollte am Hals aufgehängt werden bis der Tod eintritt“ und heute tiefe Verbindungen zu NSA-Auftragnehmern hat, zusammen mit dem Iranhasser Robert Baer); ehemalige Bush/Cheney-Apparatschiks (Dana Perino, vormals Sprecherin des Weißen Hauses und momentan bei Fox); rechtslastige Polemiker, die bei BuzzFeed wegen Plagiaten gefeuert wurden; und zwielichtige Komiker von FoxNews. All das kann man sich sparen, bis auf den einen oder anderen Twitter-Kommentar.

Aber jetzt kommt die nächste Stufe der „Berichterstattung“ zu Paris: die unvermeidliche „Regierungsvertreter sagen“ – das heißt, hirnlose und unkritische Journalisten plappern alles nach, was ihnen US-Beamte zu dem Geschehen ins Ohr flüstern. Und jetzt kauen glaubwürdige Nachrichtenseiten die Behauptung wieder, dass die Terroristen von Paris durch Snowdens Veröffentlichungen möglich wurden – ohne Beweise oder irgendwelche bestimmten Beweisstücke, logisch, nur die unbestätigten und nur ihnen selbst dienenden Aussagen der Regierungsbeamten. Aber die meisten Medien lieben es, die Aussagen der Regierungsbeamten einfach zu wiederholen statt zu hinterfragen. Diese Anschuldigungen haben sich ganz schön ausgebreitet und benötigen deshalb eine Untersuchung anhand der tatsächlichen Fakten.

Eine Hauptprämisse ist hier, dass vor Snowden „die Terroristen“ dämlicherweise (und Gott sei Dank) Telefone und unverschlüsselte Emails benutzten. Daher konnten die westlichen Regierungen ihre Pläne aufspüren und große Anschläge verhindern. Die Opfer der Anschläge in Bali 2002, Madrid 2004, London 2005, Mumbai 2008 und beim Boston Marathon im April 2013 wären darüber heute sehr überrascht. Wie konnten die Täter dieser sorgfältig geplanten Anschläge – alle vor Snowdens Enthüllungen im Juni 2013 – ihre Unterhaltungen vor einer Entdeckung schützen?

Dies ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass Propagandisten ihre Blattlinie nicht mehr halten können. Die versteckte Prämisse für ihre Anschuldigung lautet: vor Snowden hätten „die Terroristen“ nicht gewusst, wie man Telefone meidet oder wie man wirksame Verschlüsselung benutzt – bis er es ihnen gesagt hat. Aber schon vor Snowden wurden wir jahrelang gewarnt, dass „die Terroristen“ so teuflisch und schlau seien, dass sie komplexe Technologien verwenden um die elektronische Überwachung zu umgehen.

Eine solche Behauptung sollte jeden wütend machen, wenn man die ruhmreichen Mythen darüber „wie die USA Osama bin Laden aufspürten“ betrachtet. Schließlich war die Grundvoraussetzung dieser Storyline, dass bin Laden nur vertraute Kuriere zur Kommunikation benutzte. Denn „alQaeda vermied seit Jahrzehnten elektronische Kommunikationsmittel, weil die USA und andere diese Unterhaltungen abhören können.“ Erinnern Sie sich daran? „Zero Dark Thirty“ und die „rohe, aber wirksame“ Befragung von Bin Ladens „offiziellem Kurier“?

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Jeder Terrorist, der sich selbst die Schnürsenkel binden kann – ganz zu schweigen vom Planen eines bedeutenden Anschlags –, wusste seit „Jahrzehnten“, dass offene Telefone und Internetverbindungen zu vermeiden sind. Wegen der US-Überwachung. Ein gestriger Twitterkommentar, der sich über dieses „Snowden ist schuld“-Spiel lustig machte: „Mann, schon die Drogendealer aus „Wire“ wussten, dass man kein Handy benutzt.“

Snowdens Enthüllungen zeigten „den Terroristen“, dass ihre Kommunikation überwacht wird? Unfug. Das weiß man schon ewig – besonders „die Terroristen“. Die Enthüllungen sind deswegen von Bedeutung, weil sie der Welt gezeigt haben, dass die NSA und Konsorten die Internetkommunikationen und Aktivitäten von allen anderen sammeln.

Die Beweise dafür, dass „die Terroristen“ erfolgreich ausgeklügelte Verschlüsselung und andere Methoden zur Vermeidung der Überwachung schon Jahre vor Snowden benutzten, sind derart überwältigend, dass niemand mit ernstem Gesicht das Gegenteil behaupten kann. Nur eines der unzähligen Beispiele: ein USA Today-Bericht vom Februar 2001 – über 12 Jahre bevor irgend jemand wusste wer Edward Snowden war. Darin wird gewarnt, dass alQaeda in der Lage sei „die Gesetzeshüter auszutricksen“, indem sie ihre Kommunikation hinter raffinierter Verschlüsselung verstecken:

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Ähnliches berichtete am 1. Februar 2001 der „Christian Science Monitor“: „Der NSA-Direktor hat öffentlich darüber geklagt, dass alQaedas raffinierter Gebrauch des Internets und von Verschlüsselungstechniken sie vor westlichen Lauschangriffen schützten.“

Nach 9/11 hörten wir ständig, wie listig und modern „die Terroristen“ wären wenn es darum gehe, ihre Kommunikation vor uns zu verbergen. Eine gruselige Grafik vom November 2001 erklärt es so:

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Schon Mitte der 90er benutzte die Clinton-Regierung damals die Ängste wegen dem Oklahoma-Bomber Timothy McVeigh, um einen Zugang zu allen Internetkommunikationen zu bekommen. Der damalige FBI-Direktor Louis Freeh sagte vor einem Senatsausschuss im Juli 1997 – vor fast 20 Jahren:

„Die Strafverfolgungsbehörden stehen – an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert – vor einem der schwierigsten Probleme: das drohende Gespenst einer robusten, praktisch nicht lesbaren Verschlüsselung. Einige unserer wertvollsten und verlässlichsten Nachrichtentechniken stehen auf dem Spiel – und die öffentliche Sicherheit unserer Bürger. Die Fähigkeiten der Strafverfolgungsbehörden zur Untersuchung und Verhinderung von manch schwerem Verbrechen und Terrorismus würden schwer beschädigt, wenn nicht ein vernünftiger Weg zur Verschlüsselung eingeschlagen wird, dazu gehört eine lebensfähige Infrastruktur der zentralen (Schlüssel)Verwaltung. Unsere nationale Sicherheit wäre ebenso gefährdet.“

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Für wie blöd halten die die Leute, wenn sie damit rechnen, dass das alles vergessen wird? Dass wir glauben dass „die Terroristen“ erst nach Snowden herausgefunden haben, Telefone zu vermeiden und zu verschlüsseln? Witzigerweise ist das Snowden-Archiv selbst voll mit Dokumenten der NSA und seines britischen Kollegen GCHQ, in denen sie sich Sorgen machen, weil sie die Kommunikation „der Terroristen“ nicht verfolgen können – so raffiniert seien deren Ausweichtaktiken (diese Dokumente stammen natürlich aus der Zeit vor den Snowden-Leaks).

Nur ein Beispiel: die GCHQ-Daten enthalten etwas, das der Dienst als „dschihadistisches Handbuch“ bezeichnet. Sicherheitsvorkehrungen, datiert auf 2003, das Terror-Agenten über den Gebrauch raffinierter Methoden zur Überwachungsvermeidung schulen soll. Wir haben in unserem ersten Bericht bereits darauf hingewiesen – die Methoden der GCHQ sind sehr ähnlich und haben sich nicht geändert:

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Warum versuchen „Regierungsvertreter“ und ihre Medienpapageien angesichts dessen weiterhin , die Menschen von dieser offensichtlichen, leicht zu widerlegenden Unwahrheit zu überzeugen? Dass „die Terroristen“ durch Snowden gelernt haben ihre Kommunikation zu verbergen? Sie tun es, weil das Anschwindeln der Menschen sehr vorteilhaft ist.

Zunächst einmal sind die US-Behörden nicht nur scharf darauf Snowden zu dämonisieren. Sie wollen die Verschlüsselung allgemein dämonisieren, genauso wie die Firmen die das anbieten. Die folgenden Medienzitate zeigen in der Tat, dass sie seit zwei Jahrzehnten versuchen, den Gebrauch von Verschlüsselung – alles was sie aus der privaten elektronischen Kommunikation heraushält – mit einer Hilfe und Unterstützung „der Terroristen“ gleichzusetzen. Nicht nur Snowden befindet sich in der Schusslinie, sondern ihre eigenen langjährigen Partner im Überwachungsstaat (insbesondere Apple und Google), sie werden jetzt als Terroristenfreunde beschimpft, weil sie den Menschen mit Verschlüsselungsprodukten ermöglichen im Internet Privatsphäre zu besitzen.

Letzten November habe ich dokumentiert wie amerikanische und britische Behörden mit einem Public Relations-Krieg gegen Firmen im Silicon Valley vorgehen, die Verschlüsselung anbieten. Sie werden beschuldigt Helfer „der Terroristen“ zu sein. Im letzten September sagte FBI-Direktor James Comey: „Was mir dabei Sorgen macht sind Firmen, die eindeutig etwas anbieten, was den Menschen erlaubt, sich außerhalb des Gesetzes zu stellen.“ Gleichzeitig gewährte die New York Times im selben Artikel einem Sicherheitsbeamten Anonymität, der das neue iPhone 6 mit Terrorismus verknüpfte. Der Chef des GCHQ nannte Apple und Google den „Lieblings-Internet-Gefechtsstand für Terroristen und Kriminelle“. Das nennt die New York Times „einen Feldzug der amerikanischen und britischen Nachrichtendienste gegen Versuche, die digitale Überwachung nach den Enthüllungen des ehemaligen amerikanischen Mitarbeiters Edward J. Snowden einzuschränken.“

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Und das Ganze nützt der Schuldzuweisung. Bei den meisten großen Terrorattacken wussten die westlichen Geheimdienste wer die Täter waren oder sie hatten ausreichend Belege um sie zu überwachen. Alle drei Täter von Charlie Hebdo „waren den französischen Behörden bekannt“, ebenso der verhinderte Attentäter im Juli in einem Zug und mindestens einer der Attentäter von Paris. Die Dienste erhalten jedes Jahr viele Milliarden und erweiterte Befugnisse, nur um die „bösen Jungs“ zu überwachen und Anschläge zu verhindern.

Scheitern sie mit ihrer angeblichen Arbeit und sterben Menschen wegen ihres Versagens, dann wird natürlich die Schuld woanders gesucht: „Was schaut Ihr uns an?! Snowden ist schuld, oder Apple, oder die Journalisten sind schuld oder die Verschlüsselungsexperten, oder sonst wer, aber nicht wir!“ Als Geheimdienstler würden Sie nach einem erfolgreichen Terroranschlag auch wollen, dass überall nach allen möglichen Schuldigen gesucht wird – außer bei denen, die für das Verhindern solcher Anschläge verantwortlich sind.

Außerdem versuchen sie verzweifelt die Menschen von der Frage abzulenken, wie es ISIS denn möglich war, scheinbar mühelos aus dem Nichts und so schlagkräftig, innerhalb einer Woche einen russischen Passagierjet zu sabotieren, einen Markt in Beirut zu sprengen und auf den Straßen von Paris zuzuschlagen. Genau vor dieser Frage drücken sich die westlichen Regierungsvertreter am allermeisten, daher kommt die Ablenkung des Volkszorns auf Edward Snowden und Apple äußerst gelegen.

Die Ursprünge von ISIS stehen außer Frage. Die Washington Post hat es ganz einfach ausgedrückt: „Fast alle Anführer des Islamischen Staats sind frühere Offiziere der irakischen Armee, einschließlich der Mitglieder ihres rätselhaften Militärs und der Sicherheitskomitees und die Mehrzahl ihrer Emire und Prinzen.“ Sogar Tony Blair – Tony Blair – gibt zu, dass es ohne Irakinvasion keinen ISIS gegeben hätte: „Ich denke, da ist etwas Wahres dran“, sagte er auf die Frage ob die Irakinvasion der „Hauptgrund“ für den Aufstieg von ISIS war. John Cassidy schrieb im August im „New Yorker“.

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„Durch die Zerstörung des irakischen Staats und die Erschütterungen über die gesamte Region, was zu einem Bürgerkrieg in Syrien führte, hat die Invasion von 2003 Bedingungen geschaffen, in denen Bewegungen wie ISIS gedeihen konnten. Und durch das Kippen der öffentlichen Meinung in den USA und anderen westlichen Ländern gegen eine erweiterten Militäreinsatz im Nahen Osten hat dieser Krieg die Möglichkeit eines groß angelegten multinationalen Einsatzes zur Vernichtung des selbsternannten Kalifats praktisch verhindert.“

Und es stellt sich die Frage, warum ISIS so stark bewaffnet und so mächtig ist. Dafür gibt es viele Gründe, aber eine Hauptrolle darin haben die USA und ihre „Verbündeten in der Region“ (d.h. die Tyrannenstaaten am Golf) mit ihren Waffenlieferungen, aus Versehen oder (im Fall der „Verbündeten der Region“) auch anders. Da werden unbedenklich irgendwohin Waffen geliefert und in der Region Geld verteilt (sogar US-Regierungsvertreter haben öffentlich zugegeben, dass ihre Verbündeten ISIS finanzieren). Aber freigegebene Dokumente der USA legen unmissverständlich nahe, dass die USA selbst in den Aufstieg von ISIS verwickelt sind, wenngleich unbeabsichtigt. Dieser 4-Minuten-Clip mit Mehdi Hassan von Al Jazeera und General Michael Flynn, dem ehemaligen Direktor der Defense Intelligence Agency (DIA), zeigt es eindrucksvoll:

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– Bild anklicken, YouTube! (echter Journalismus, wie man ihn in Deutschland gar nicht kennt)

Ist es angesichts dessen ein Wunder, dass „US-Regierungsvertreter“ und die militärische Geheimdienst-Clique – ganz zu schweigen von Irakkriegsbefürwortenden Schmierfinken wie James Woolsey und Dana Perino – verzweifelt versuchen, die Schuld für ISIS und die Terroranschläge von sich abzulenken und auf Edward Snowden, Journalismus gegen Überwachung oder Softwarefirmen für Verschlüsselung zu schieben? Würden Sie das nicht auch an ihrer Stelle? Stellen Sie sich das vor: gleichzeitig mit aller Macht ISIS als „die größte und bösartigste Bedrohung aller Zeiten“ darzustellen, während man gleichzeitig weiß, was für eine bedeutende Rolle man selbst bei dessen Schöpfung und Ausbreitung hatte.

Die eindeutigen und überwältigenden Beweise – wie oben dargelegt – zeigen, wie viel Täuschung dieses Schuldzuweisungsspiel benötigt. Noch wichtiger ist in diesem Punkt aber die Frage, warum sie so versessen sind, die Untersuchung der Geschehnisse von sich selbst ab und auf andere zu lenken. Die Antwort auf diese Frage ist ebenso klar – und extrem verstörend.

Recherchen: Margot Williams


Glenn-Greenwald-Original_350Glenn Greenwald (* 6. März 1967 in New York City) ist ein US-amerikanischer Journalist, Blogger, Schrift­steller und Rechtsanwalt. Weltweite Bekanntheit erlangte Greenwald, als er die von Edward Snowden im Jahr 2013 übermittelten Dokumente zum streng geheimen NSA-Über­wachungs­programm PRISM auf­be­rei­tete und Anfang Juni 2013 in der britischen Tageszeitung The Guardian zusammen mit einem Interview Snowdens veröffentlichte. Aufgrund dieser und folgender Berichte ist er eine der zentralen Figuren der Globalen Überwachungs- und Spionageaffäre. Seit Februar 2014 ist er als Hauptautor der publizistischen Website The Intercept tätig. Greenwald ist Gründungsmitglied der Freedom of the Press Foundation mit Sitz im Vorstand (Board of Directors).